Laurent Mauvignier - Dichtung ohne die Sprache der Dichter


In seinem zweiten Roman, Ein Ende finden, erzählt Mauvignier die Geschichte einer Ehe kurz vor dem endgültigen Auseinanderbrechen; der Mann hatte eine Freundin und war im Begriff, zu ihr zu ziehen. Ein Autounfall, den er mit schwersten Verletzungen knapp überlebt, hat alles verändert – zumindest ist dies die Hoffnung der Frau, die glaubt, sie könne die Beziehung retten, indem sie ihren Mann nun aufopferungsvoll pflegt. Der ganze Text ist ein innerer Monolog der Frau aus zeitlich unscharfer Rückschau, ein Erzähler tritt nicht auf.


Die Monologisierende, eine einfache, „ungebildete“ Frau aus dem Arbeitermilieu einer Provinzvorstadt, spricht in ihrer Sprache. Mit diesem einfachen Mittel bricht Mauvignier die literarische Konvention des hochsprachlichen Erzählens auf: Sein Material ist die gesprochene Sprache. „Realistisch“ ist die Schreibweise dennoch nicht, denn Mauvignier ver–dichtet das Material, im doppelten Sinne: Das Textgewebe ist so dicht, daß man kaum ein Wort verändern oder gar weglassen könnte, gleichzeitig wird die Sprache durch eine kaum merkliche Überhöhung „dichterisch“. Das Ergebnis ist eine Eindringlichkeit, wie man sie nicht oft findet.


1. Reduzierter Wortschatz

Gesprochene Sprache heißt nicht Umgangssprache. Mauvignier benützt denn auch so gut wie keine typisch umgangssprachlichen Ausdrücke, geschweige denn Argot. Wortspiele und ähnliche „Knacknüsse“ fehlen völlig. Problematisch war schon eher, mit dem relativ beschränkten Wortschatz der Protagonistin auszukommen, vor allem dann, wenn Mauvignier ihn poetisch „anhebt“:

    Dans ma bouche, tous les mots de colère et de rage qui s'entassaient, ça craquait de partout d'avoir si lourd de mots, un tel chargement qui s'entassait dans la gorge, écrasant les parois, déchirant la chair pour prendre la place et moi j'étouffais (p. 20)

Rohfassung:

    In meinem Mund all die Zorn- und Wutwörter, die sich zusammenpferchten, das ist überall fast geplatzt, weil es so schwer war von Worten, eine solche Ladung, die sich in der Kehle ansammelte, und die Wände zum Platzen brachte, und das Fleisch zerriß um Platz zu schaffen, und ich erstickte

Endfassung:

    Und in meinem Mund haben sich die ganzen Wutwörter1 zusammengeballt, zum Bersten voll2 alles, in der Kehle eine so geballte Ladung, ein solcher Druck3, daß es das Fleisch zerriß und mir die Luft abschnitt

1 Für die Doppelung colère et rage fand ich keine überzeugende Lösung, ich nahm den Verlust hin in der Meinung, daß „Wutwörter“ allein stärker wirkt als „Zorn- und Wutwörter“.
2„Zum Bersten voll“ für craquait: ein kleiner Gewinn im Deutschen, der vielleicht wieder einen Punkt gutmacht.
3„ein solcher Druck, daß [+ doppelter Nebensatz]“: macht das Bilddéchirant la chair erträglich.


2. Die gesprochene Sprache schreiben

Mauvignier stellt die Lebendigkeit der gesprochenen Sprache mit „strukturellen“ Kennzeichen her: Die Sätze gehorchen nicht den Gesetzen der Hochsprache, sondern der spontanen Dynamik des Sprechens – und diese „funktioniert“ im Französischen ganz anders als im Deutschen. Wie funktioniert sie im Deutschen? Wir wenden sie zwar unwillkürlich an, haben sie aber nicht schreiben gelernt, im Gegenteil, man hat uns beim Schreibenlernen das Umgangssprachliche ausgetrieben. In der deutschsprachigen Literatur fand ich nur einige wenige Vorbilder, an die ich mich halten konnte (ein Beispiel von Grass hier). Normalerweise wird bei deutschen Autoren die gesprochene Sprache zum Dialekt oder Soziolekt. Beispiele für Mauvigniers Verfahren (aus den ersten beiden Seiten):

  • Les blouses pas fermées qui s'ouvraient sous leurs mouvements ... (das pas ist hochsprachlich nicht korrekt)
  • Et dans les veines ça tapait, sous le crâne ça tapait, le sang (nicht-hochsprachliche Syntax)
  • Il y aura quelqu'un, je me disais, il y aura quelqu'un ... (nachklappende Kennzeichnung der direkten Rede)

Diese strukturellen Kennzeichen durfte ich weder direkt übernehmen – der Text würde unweigerlich manieriert –, noch durfte ich sie unterschlagen, ich hätte sonst den Text verraten. Ich mußte also eigene Wege finden. Schon anläßlich der Übersetzung von Mauvigniers Erstling Fern von euch hatte ich mir einige Möglichkeiten der Kennzeichnung zurechtgelegt (die natürlich niemals schematisch verwendet werden durften):

  • Verkürzung von Wörtern, Weglassen von Artikeln, Pronomina u.ä.:hab statt habe etc.
  • Indikativ statt Konjunktiv, vor allem bei indirekter Rede: „ich hatte mir gesagt, er braucht ein Zimmer für sich“
  • Bestimmungen nachklappend: „ich hab den Atem zurückgehalten und den Blick“ – „der Hund, der herumgesprungen ist im Kies“
  • Perfekt als 'betonte' Erzählzeit.
  • Präsens statt Futur: „Aber jetzt, als er wieder heimgekommen ist, hab ich mir gesagt, jetzt kommt er auch von seinem Zorn los.“

Einige Möglichkeiten erwiesen sich sogar als willkommene Nuancierungsinstrumente, die das Französische so nicht kennt:

Indikativ statt Konjunktiv bzw. Präsens statt Futur: Weil beide Verbformen im Deutschen zusammengesetzt sind, wirken sie etwas umständlich und stören häufig den Satzfluß, doch manchmal ist die Betonung durch Umständlichkeit auch erwünscht. Im folgenden Satz kommt beides vor:

    Il était revenu et dans quelques mois il marcherait, dans quelques mois encore, et puis il saurait, alors il ne voudra plus partir, je me disais: tout ça, il regrettera(p. 23)

    Er ist wieder daheim gewesen und in ein paar Monaten würde er laufen können, dann noch ein paar Monate und es ist ihm klar geworden und er will nicht mehr weg, ich hab mir gesagt: es wird ihm leid tun (S. 19)

Auf das „leid tun“ kommt es der Sprecherin an, deshalb Betonung durch Futur-Form.


Das Spiel mit den Vergangenheitsformen: Im gesprochenen Französisch tritt das passé composé grosso modo an die Stelle des passé simple der Schriftsprache, während das imparfait in beiden Sprachformen die „Hintergrundhandlung“ kennzeichnet (allerdings hält sich die Praxis längst nicht immer daran). Im Deutschen gilt etwas, das sich kaum als Regel bezeichnen läßt und mir auch nur als ungefähre Handhabe diente: Das Imperfekt in der Regel nur bei Hilfs- und Modalverben, bei anderen Verben allenfalls dann, wenn die Zeitform regelmäßig gebildet und sehr geläufig ist; sonst wird das Perfekt verwendet. Daß die Geltung dieser „Regel“ stark vom Bildungsgrad des Sprechenden abhängt, bot zunächst die Chance, die Protagonistin sprachlich zu charakterisieren. Darüber hinaus erlaubte es eine gewisse Dynamisierung, denn das Perfekt als Vergangenheitsform wirkt stärker, betonter. Ich mußte freilich jedesmal abwägen, denn zu häufiger Gebrauch des Perfekts hätte den Text als zu wuchtig erscheinen lassen.


3. Am Ende half nur Feilen am Satz

Die eigentliche Herausforderung war der Satz, der Sprachfluß: Mauvigniers Text übt einen sehr starken Sog aus, der in erster Linie auf die minutiös ausgearbeiteten Sätze zurückzuführen ist. Um diesen Sog zu reproduzieren, half nur ebenso minutiöses Ausfeilen und Austarieren der deutschen Sätze. Zumindest bei schwierigen Passagen habe ich zunächst eine Rohfassung hingeworfen. Dann begann ein mühsames Suchen nach den Stellen, an denen der Satz hakte, und nach Lösungen, die den Sog des Textes im Deutschen reproduzierten (wobei mir all die herrlichen Register der deutschen Hochsprache verwehrt waren). Die Wortlösungen hatten sich oft dem Satz zu beugen.

Beispiel 1

Non, ses yeux ne me laissant jamais finir, ordonnant que je saisisse le vase et que je le laisse tomber, que le verre éclate dans la chambre pour que du fracas sur le lino il puise la force, lui, de soulever son corps juste une fois pour tendre le visage, et la bouche, pour savoir une fois encore comment on fait pour aller chercher dans les poumons l'air et le jeter (p. 16)

Rohfassung:

    Nein, da mich seine Augen nie ausreden ließen, mir befahlen, daß ich die Vase nehme und sie fallen lasse, damit das Glas zerschellt im Zimmer und er aus dem Klirren auf dem Boden die Kraft beziehen kann, er, seinen Körper aufzurichten nur ein Mal, um das Gesicht vorzurecken, und den Mund, um noch ein Mal zu merken, wie man das macht, in den Lungen die Luft holen und die auszuwerfen

Endfassung:

    Aber seine Augen haben mich nie ausreden lassen, sie haben mir befohlen, die Vase zu nehmen und fallen zu lassen, es sollte Scherben geben im Zimmer und er, er hat sich aus dem Klirren auf dem Boden die Kraft versprochen, wenigstens ein Mal seinen Körper aufrichten und Kopf und Mund vorstrecken zu können, wenigstens ein Mal wieder erfahren, wie das geht, die Lungen vollsaugen und die Luft rauspusten (S. 13)

Im Original ist alles verknüpft mit Que-Subordinationen. Das funktioniert im Deutschen nicht, vor allem wohl wegen des „zu“, das in die – zusammengesetzten – Verben einzufügen wäre. Mit der reinen Infinitivform erhalten die Verben ihre Kraft zurück, sie „knallen“.


Beispiel 2

    Et c'était être si folle. Et c'était être ivre tous les jours, pour lui, par lui, de savoir qu'il était là, que je pouvais tout donner, tout offrir, ouvrir grand les bras que si longtemps il m'avait voulu voir refermer sur eux-mêmes. (p. 33)

Rohfassung:

    Ich war so selig. Jeder Tag ein Fest, seinetwegen, von ihm veranlaßt, zu wissen, daß er hier war, daß ich alles geben konnte, alles schenken, die Arme weit aufmachen statt sie, wie er es so lange gewollt hatte, hängen zu lassen.

Endfassung:

    Ich war so selig. Jeder Tag ein Fest, seinetwegen, unseretwegen, einfach wissen, er ist hier und ich kann alles geben, alles schenken, die Arme weit aufmachen statt sie, wie er es so lange gewollt hatte, hängen zu lassen. (S. 29)

In der Rohfassung sind die beiden Wortprobleme folle ivre gelöst, und doch ist die Version unbefriedigend: Der Originalsatz enthält eine kunstvolle Steigerung, die am Ende unerwartet „ins Moll“ umschlägt. Und das gilt es herauszuarbeiten. Ich nehme dazu die kleine Unkorrektheit bei der Wiedergabe von pour lui, par lui in Kauf zugunsten der symmetrischen Binnenstruktur „seinetwegen, unseretwegen“. Doch erst die Auflösung der Nebensatzkonstruktion de savoir que ... in eine (scheinbare) Reihung von Indikativsätzen stellt die Steigerung wieder her. „Arme hängen lassen“ fürrefermer sur eux-mêmes: Ungenauigkeit in Kauf genommen zugunsten der deutschen Metapher.


Beispiel 3

    Puisque ce n'est pas comme moi je croyais quand j'étais plus jeune. Puisque les choses changent. Et non comme moi je croyais que rien ne changeait, que rien ne changerait et que tous les jours vers les deux heures de l'après-midi il trouverait en rentrant du travail la table mise (p. 53)

Rohfassung:

    Weil es nicht so ist, wie ich dachte, als ich jünger war. Weil sich die Dinge ändern. Und nicht, wie ich meinte, daß sich nichts ändert, daß sich nichts ändern würde und daß er jeden Nachmittag um zwei Uhr von der Arbeit heimkommt und der Tisch gedeckt ist

Endfassung:

    Weil es anders ist, als ich es mir früher vorgestellt hab. Weil sich die Dinge verändern. Und es nicht so ist, wie ich dachte, daß sich nichts ändert, daß sich nie etwas ändert und er jeden Nachmittag um zwei Uhr von der Arbeit heimkommt und den Tisch gedeckt vorfindet (S. 46)

Hier ging es vor allem darum, die auffällige Wiederholung der Binnenstrukturen zu reproduzieren. Die kleine Veränderung am Anfang, um die Struktur wiederholen zu können: „es anders ist – es nicht so ist“; „anders“ bietet sich an, weil es mit „verändern – ändert – ändert“ korrespondiert.


Beispiel 4

    Et moi qui avais vu ça longtemps, cette guerre où se taire c'était se mettre en garde contre les moments les guerres à venir, où, d'un simple mouvement des sourcils, il jetait sur mes faiblesses des explications sans retour sur le pourquoi de ses départs, motivant les raisons de notre échec par ça (p. 61)

Rohfassung:

    Und ich, die das lange erlebt hatte, diesen Krieg, wo schweigen bedeutet hatte, sich gegen die kommenden Augenblicke des Kriegs zu wappnen, wo er bloß mit einer Bewegung der Brauen unanfechtbare Erklärungen über das Warum seiner Fluchten auf meine Schwachheiten warf, rechtfertigend damit die Gründe unseres Scheiterns

Endfassung:

Und wie lange hatte ich das mitgemacht, diesen Krieg, wo man nichts sagte, um weniger angreifbar zu sein bei künftigen Kriegen1, wo er bloß die Augenbrauen hochzog2, wenn er mit unanfechtbaren Erklärungen über das Warum seines Weggehens auf meine Schwächen abzielte3, die auch schon4 die Gründe unseres Scheiterns waren (S. 53)

1 Die konzise Wendung se taire c'était se mettre en garde verlangte nach einer kürzeren, überzeugenden Lösung; „wappnen“ war mir auch zu hochsprachlich.
2 Bei verbaler Wiedergabe von mouvement des sourcils kommt ein Vorteil des Deutschen („hochziehen“) zum Zuge, und gleichzeitig wird die Binnensymmetrie où – où deutlicher.
3 Die Wendung il jetait sur mes faiblesses des explications ist im Französischen sehr ungewöhnlich (doch typisch für Mauvignier); ich entschied mich für eine Lösung, die im Deutschen erst auf den zweiten Blick ungewöhnlich ist.
4 Ungewöhnlich ist auch motivant les raisons. Es ist ein unbeholfener Ausdruck von Aggressivität (man kann ein Verhalten rechtfertigen, aber nicht Verhaltensmotive). Die deutsche Wendung „auch schon“ in Verbindung mit dem Indikativ dürfte dies besser wiedergeben als eine wortgetreue Konstruktion.